Leitlinien zum Umgang mit Wohnraumkündigungen wegen sog. Berufs- oder Geschäftsbedarfs
BGH 29.3.2017, VIII ZR 45/16
Es ist nicht zulässig, den Berufs- oder Geschäftsbedarf als ungeschriebene weitere Kategorie eines typischerweise anzuerkennenden Vermieterinteresses an der Beendigung eines Wohnraummietverhältnisses zu behandeln. Die Gerichte haben vielmehr im Einzelfall festzustellen, ob ein berechtigtes Interesse des Vermieters an der Beendigung des Mietverhältnisses besteht (§ 573 Abs. 1 S. 1 BGB).
Der Sachverhalt:
Der Beklagte ist seit Juli 1977 Mieter einer 27 qm großen Zweizimmerwohnung in Berlin. Die Klägerin hat die Wohnung im Jahr 2008 durch Zuschlag im Rahmen einer Zwangsversteigerung erworben und ist als Vermieterin in den Mietvertrag eingetreten. Der Ehemann der Klägerin betreibt nach ihrer Darstellung im ersten Geschoss des Vorderhauses des Anwesens, in dem sich die vom Beklagten genutzte Wohnung befindet, ein Beratungsunternehmen.
Die Klägerin kündigte das Mietverhältnis mit der Begründung, ihr Ehemann benötige die Wohnung zur Erweiterung seines seit 14 Jahren ausgeübten Gewerbes, da die räumliche Kapazität der hierzu im ersten Obergeschoss des Anwesens angemieteten Räume ausgeschöpft sei. Die auch als Beratungsräume genutzten Büroräume seien überfrachtet mit bis an die Decke reichenden, überfüllten Aktenregalen. Ihr Ehemann beabsichtige daher, in der Wohnung des Beklagten einen weiteren Arbeitsplatz samt Archiv einzurichten. Zur Verwirklichung dieses Vorhabens wolle sie ihm die vom Beklagten genutzte Mietwohnung zur Verfügung stellen.
AG und LG bejahten zwar das Vorliegen eines Kündigungsgrunds, weil der von der Klägerin geltend gemachte Bedarf an der vermieteten Wohnung für die berufliche Tätigkeit ihres Ehemannes ein berechtigtes Interesse i.S.d. § 573 Abs. 1 S. 1 BGB darstelle, das dem Kündigungstatbestand des Eigenbedarfs (§ 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB) gleichstehe. Gleichwohl wiesen sie die auf Räumung und Herausgabe gerichtete Klage im Hinblick auf die in Berlin in Kraft getretenen Vorschriften betreffend die Zweckentfremdung von Wohnraum ab. Die Revision der Klägerin hatte vor dem BGH keinen Erfolg.
Die Gründe:
Es ist nicht zulässig, den Berufs- oder Geschäftsbedarf als ungeschriebene weitere Kategorie eines typischerweise anzuerkennenden Vermieterinteresses an der Beendigung eines Wohnraummietverhältnisses zu behandeln. Die Gerichte haben vielmehr im Einzelfall festzustellen, ob ein berechtigtes Interesse des Vermieters an der Beendigung des Mietverhältnisses besteht (§ 573 Abs. 1 S. 1 BGB). Mit den typisierten Regeltatbeständen des § 573 Abs. 2 BGB hat der Gesetzgeber für die praktisch bedeutsamsten Fallgruppen selbst geregelt, unter welchen Umständen der Erlangungswunsch des Vermieters Vorrang vor dem Bestandsinteresse des Mieters hat. Wenn der Vermieter die Wohnung – wie hier – jedoch nicht zu Wohnzwecken benötigt, sondern sie einer gewerblichen Nutzung zuführen will, ist der Kündigungstatbestand des Eigenbedarfs gem. § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB nicht erfüllt. Ebenso wenig stellt die Eigennutzung der vermieteten Wohnräume zu (frei-)beruflichen oder gewerblichen Zwecken eine wirtschaftliche Verwertung i.S.v. § 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB dar.
Bei Anwendung der Generalklausel des § 573 Abs. 1 S. 1 BGB hingegen verlangt das Gesetz stets eine einzelfallbezogene Feststellung und Abwägung der beiderseitigen Belange der betroffenen Mietvertragsparteien. Allgemein verbindliche Betrachtungen verbieten sich dabei. Allerdings geben die typisierten Regeltatbestände des § 573 Abs. 2 BGB einen ersten Anhalt. Will der Vermieter aus nachvollziehbaren und vernünftigen Gründen die Wohnung selbst – ausschließlich oder überwiegend – zu Wohnzwecken nutzen oder sie hierfür den im Gesetz genannten Angehörigen zur Verfügung stellen, reicht bereits ein ernsthafter Nutzungsentschluss für ein vorrangiges Erlangungsinteresse des Vermieters aus (§ 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB). Dem – von nachvollziehbaren und vernünftigen Gründen getragenen – wirtschaftlichen Verwertungsinteresse eines Vermieters, etwa durch Veräußerung oder Abriss für einen Neubau, billigt das Gesetz hingegen nur ausnahmsweise dann Vorrang zu, wenn der Vermieter bei Fortsetzung des Mietverhältnisses erhebliche Nachteile erleiden würde (§ 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB).
Das Interesse des Vermieters, die Wohnung zu (frei-)beruflichen oder gewerblichen Zwecken selbst zu nutzen, ist von der Interessenlage her regelmäßig zwischen den genannten typisierten Regeltatbeständen anzusiedeln. Auch insoweit verbietet sich eine Festlegung allgemein verbindlicher Grundsätze. Es lassen sich allerdings anhand bestimmter Fallgruppen grobe Leitlinien bilden: So weist der Entschluss eines Vermieters, die Mietwohnung nicht nur zu Wohnzwecken zu beziehen, sondern dort zugleich überwiegend einer geschäftlichen Tätigkeit nachzugehen (sog. Mischnutzung), eine größere Nähe zum Eigenbedarf nach § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB auf, da er in solchen Fallgestaltungen in der Wohnung auch einen persönlichen Lebensmittelpunkt begründen will. In diesen Fällen wird es regelmäßig ausreichen, dass dem Vermieter bei verwehrtem Bezug (auch durch Ehegatten oder Lebenspartner) ein beachtenswerter Nachteil entstünde – was bei einer auf nachvollziehbaren und vernünftigen Erwägungen der Lebens- und Berufsplanung des Vermieters häufig der Fall sein dürfte.
Will der Vermieter (oder sein Ehegatte/Lebenspartner) die Wohnung hingegen nur zu geschäftlichen Zwecken nutzen, weist dies eine größere Nähe zur Verwertungskündigung nach § 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB auf. Da der Mieter hier allein aus geschäftlich motivierten Gründen von seinem räumlichen Lebensmittelpunkt verdrängt werden soll, muss der Fortbestand des Wohnraummietverhältnisses für den Vermieter einen Nachteil von einigem Gewicht darstellen; etwa dann, wenn die geschäftliche Tätigkeit andernfalls nicht rentabel durchgeführt werden könnte oder die konkrete Lebensgestaltung die Nutzung der Mietwohnung erfordert (z.B. Krankheit, Kinderbetreuung oder Pflege).
Demzufolge ist vorliegend ein berechtigtes Interesse der Klägerin an der Beendigung des Mietverhältnisses nicht gegeben. Sie hätte aufgrund der beabsichtigten Nutzung allein für gewerbliche Zwecke ihres Ehemannes entstehende Nachteile von einigem Gewicht darlegen müssen. Es ist aber nicht ersichtlich, dass die Klägerin oder ihr Ehemann durch eine Auslagerung eines größeren Teils des (teilweise 30 Jahre zurückreichenden) Aktenbestands in andere, etwas entfernter gelegene Räumlichkeiten eine wirtschaftliche Einbuße von einigem Gewicht oder ein die Organisation des Unternehmens nicht unerheblich beeinträchtigender Nachteil entstehen würde und sie deshalb auf die beabsichtigte Nutzung der Mietwohnung – bislang persönlicher Lebensmittelpunkt des Beklagten – angewiesen wären.
Quelle: BGH PM Nr. 43 vom 29.3.2017