AG München v. 22.11.2019 – 411 C 19436/18
Kündigung wegen Eigenbedarfs: Keine Räumung bei Selbstmordgefahr des Mieters
Einer Kündigung wegen Eigenbedarfs steht eine für den Fall einer Räumungspflicht positiv festgestellte Selbstmordgefahr des Mieters entgegen. Unter Berücksichtigung dieser Gefährdung ist eine Räumung der Wohnung für den suizidgefährdeten Mieter nicht zumutbar.
Der Sachverhalt:
Der beklagte 89-jährige Mieter wohnt in der Wohnung der klagenden Vermieterin.
Die drei-Zimmer-Wohnung, 1. OG, 80 qm, hatte der Beklagte 1975 mit seiner
damals noch lebenden Ehefrau vom Voreigentümer angemietet. Aktuell zahlt er
dafür zzgl. Garage mtl. rd. 1.000 € warm an die Klägerin.
Die Klägerin bewohnt mit ihrer erwachsenen Tochter eine Zwei-Zimmer-Wohnung,
während ihr ebenfalls erwachsener Sohn nach Trennung von seiner Freundin ein 9
qm großes Zimmer bei seinem Vater bewohnt. Der Sohn hat im
familiengerichtlichen Verfahren drei Tage Umgang seinem Kind erreicht, davon
einmal mit Übernachtung bei ihm. In der 52 qm großen Wohnung des Opas muss
hierfür jeweils umgebaut werden. Die Klägerin kündigte dem Beklagten mit
Schreiben vom 24.2.2018 wegen Eigenbedarfs zum 30.11.2018. Im Namen des
Beklagten legte der Mieterverein München e.V. mit Schreiben vom 26.9.2018,
dessen Zugang innerhalb der gesetzlichen Sechsmonatsfrist bei der Klägerin
streitig war, Widerspruch gegen die Eigenbedarfskündigung ein und benennt dort
als Härtegründe Hüft- und Kniegelenkserkrankungen sowie seine langjährige
Verwurzelung im Wohnumfeld.
Die Klägerin behauptet, dass der Beklagte in der näheren Umgebung eine
Ersatzwohnung finden könne, wenn er sich nur ausreichend darum bemühe. Die
Wohnung sei nur über mehrere Treppenstufen erreichbar, also nicht
altersgerecht. Man würde den Beklagten tatkräftig bei seinem Umzug
unterstützen, der überdies ja noch zweimal die Woche nach Riem fahren könne, um
dort im Tierheim zu helfen. Der Beklagte gibt an, seit der Kündigung fünf Kilo
abgenommen und auf 26 Bewerbungen nur Absagen erhalten zu haben. Einer
Rücknahme der auf Räumung und Herausgabe gerichteten Klage, von der Klägerin
nach Eingang des gerichtlich erholten Sachverständigengutachtens erklärt,
stimmt er nicht zu.
Das AG wies die Klage ab und ordnete die Fortsetzung des Mietverhältnisses auf
unbestimmte Dauer an. Das Urteil ist nicht rechtskräftig.
Die Gründe:
Der von der Klägerin behauptete Eigenbedarf besteht zwar tatsächlich. Die
Klägerin und ihr Sohn haben glaubwürdig und glaubhaft ausgesagt, dass der Sohn
die streitgegenständliche Wohnung für sich und das Umgangsrecht mit seinem Sohn
benötigt und dort einziehen möchte. Sein zweijähriges Kind benötigt ein
stabiles Umfeld für den Umgang. Der Mieter kann jedoch gem. § 574 BGB einer an
sich gerechtfertigten ordentlichen Kündigung des Vermieters widersprechen und
von ihm die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die Beendigung
des Mietverhältnisses für den Mieter eine Härte bedeuten würde, die auch unter
der Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen
ist.
Die Beweisaufnahme hat zur Überzeugung des Gerichts ergeben, dass der Beklagte
entsprechend der langen Wohndauer in dem Wohnviertel stark verwurzelt ist.
Letztlich war in der Abwägung ausschlaggebend das Ergebnis des schriftlichen
Gutachtens des vom Gericht bestellten Sachverständigen. Danach wurde der
psychische Gesundheitszustand des Beklagten schon als Folge der Kündigung
bereits erheblich beeinträchtigt. Hierdurch hat sich eine mittelschwere
depressive Episode manifestiert. Durch einen Umzug würde sich sein psychisches
Befinden aller Wahrscheinlichkeit nach noch weiter verschlechtern, bis hin zu
einer schweren depressiven Episode, bei der auch ein Suizid nicht ausgeschlossen
werden kann.
Zu keinem Zeitpunkt der Untersuchung bestand ein Anhaltspunkt, dass der
Beklagte seine Beschwerden stärker beschreiben würde als sie vorliegen oder gar
simulieren würde. Für den Fall, dass er aus seiner Wohnung ausziehen müsste,
wird konkret der Suizid erwogen. Es handelt sich bei ihm um einen alten,
alleinstehenden Mann mit einer depressiven Episode und einem ungelösten
Problem, nämlich dem Verlust seiner Wohnung und seines Lebensmittelpunktes. Er
ist daher als erheblich gefährdet anzusehen. Unter Berücksichtigung dieser
Gefährdung ist eine Räumung der Wohnung für den Beklagten nicht zumutbar.
Nachdem auch nicht absehbar ist, ob und wann die festgestellte Gefährdung nicht
mehr besteht, ist das Mietverhältnis auf unbestimmte Zeit fortzusetzen.
Quelle: AG München PM Nr. 92 vom 22.11.2019